Zusammenfassung einer europäischen Studie über die AutohaftpflichtversicherungenDie Untersuchung (Tarifgestaltung in der Kfz-Haftpflichtversicherung) wurde vom Bund der Versicherten (BdV) veranlasst, um zu überprüfen, ob das europäische Tarifsystem, insbesondere die „Tariffreiheit”, die im Rahmen der Deregulierung im Jahre 1994 eingeführt wurde, zu Beitragsgerechtigkeit in der Kfz-Haftpflichtversicherung führt. Tatsächlich enthält die Studie einige Hinweise, dass die Deregulierung und die dadurch geschaffene Tariffreiheit in der europäischen Kfz-Pflichtversicherung ein Fehler gewesen sein könnte. Die sehr unterschiedlichen Praktiken in den EU-Mitgliedsstaaten, die sich durch die Tariffreiheit ergeben haben, könnten gegen das Diskriminierungsverbot im Vertrag von Rom verstoßen. Es ist eine Tatsache, dass Millionen schadenfreie Autofahrer in Europa auf die Beitragsgerechtigkeit der Tarife vertrauen, aber Milliarden von Euros mehr an Prämien zahlen als Fahrzeughalter mit Schäden. Es gibt keine Kompatibilität der verschiedenen Systeme. Es gibt keinen grenzüberschreitenden „Markt“ für Autoversicherungen, was ein Hindernis für die Schaffung des europäischen Binnenmarktes darstellt. Die Autoren dieser Untersuchung, die Wissenschaftler Prof. Basedow (Teil II), Prof. Ulrich Meyer (Teil III) und Prof. Schwintowski (Teil V) und Hans Dieter Meyer (BdV, Teil IV) stimmen in ihrer Empfehlung an die Adresse der EU-Kommission überein, dass das europäische Tarifsystem in der Kfz-Haftpflichtversicherung re-reguliert werden müsste.Prof. Basedow zählt in der Zusammenfassung seines Beitrages (Teil II, Kapitel IV) acht Thesen auf, nach denen im Rahmen des Gemeinschaftsrechts Initiativen der Gemeinschaft hinsichtlich der Tarifstrukturen der Kfz-Pflichtversicherung möglich sind. Der Beitrag von Prof. U. Meyer (Teil III, mit Berichten über die Tarifsysteme in 19 Ländern) zeigt die extremen Unterschiede in den EU-Mitgliedsstaaten und ihre Auswirkungen auf die Prämien der einzelnen Versicherten. Die Kombination von umfangreichen und unterschiedlichsten primären Prämiendifferenzierungen (Beitragsklassen) unter Verwendung unterschiedlichster Bonus-Malus-Systeme ergeben große Unterschiede in den Beitragsspreizungen in Europa: weniger als 1 : 10 3 Länder (GR, L, SF) 1 : 20 – 1 : 50 6 Länder (B, DK, E, I, NL, P) 1 : 50 – 1 : 80 5 Länder (A, GB, IRL, NL, S) etwa 1 : 110 1 Land (CH) etwa 1 : 210 1 Land (F) etwa 1 : 250 1 Land (Deutschland) Es gibt außerdem große Unterschiede in der Zeitdauer, die ein junger Autofahrer schadenfrei fahren muss, um den günstigsten Beitragssatz zu erreichen: 2 – 5 Jahre 4 (E, GB, IRL, P) 6 – 8 Jahre 4 (A, DK, GR, S) 10 – 14 Jahre 7 (B, F, I, L, N, NL, SF) 21 Jahre 1 (Deutschland) Die Autoren der Untersuchung haben unterschiedliche Auffassungen über die Differenzierungen in den Kfz-Versicherungstarifen. Die drei Wissenschaftler meinen, dass die meisten der traditionellen Tarifmerkmale – mit einigen Modifikationen – akzeptiert werden könnten, dass die Zahl der Tarifmerkmale aber aus Gründen der Transparenz begrenzt werden sollte. Der entscheidende Teil der Studie ist eine Auseinandersetzung zwischen Prof. U. Meyer und H. D. Meyer (BdV) über die Frage, ob das europäische Tarifsystem mit allgemeinen versicherungstechnischen und statistischen Regeln übereinstimmt oder ob es zu Diskriminierungen bestimmter Gruppen von Fahrzeughaltern führt. Prof. Ulrich Meyer (Teil III) folgt der Meinung der Versicherungsunternehmen, dass ein Tarifmerkmal der Versicherungstechnik entspreche und nicht diskriminierend sei, wenn es aus dem statistischen Durchschnitt von heterogenen Gruppen abgeleitet wird. Das würde bedeuten: Wenn zum Beispiel die willkürlich gebildete Gruppe von Garagenbesitzern weniger Schäden aufweist, dann soll es richtig sein, dass jeder Garagenbesitzer weniger Prämien zahlt. Die Gruppe der Nichtgaragenbesitzer soll ihre Schäden selbst bezahlen, und so zahlt jeder von ihnen höhere Prämien ohne Rücksicht darauf, ob er ein guter oder schlechter Autofahrer ist. H. D. Meyer kritisiert diese Unterscheidungen nach Gruppenstatistiken, da sie der Versicherungstechnik widersprechen, die einen kausalen Zusammenhang mit dem individuellen Risiko verlangt, und weil sie Grundregeln der Statistik verletzt, die eine Verallgemeinerung von statistischen Durchschnittsergebnissen heterogener Gruppen verbietet, weil solche Verallgemeinerungen zu Diskriminierungen führen. Danach sind EU-Eingriffe in die Tarifsysteme notwendig. Und sie sind auch zulässig, weil sie nur den Versicherungsbereich betreffen, nicht aber die Gewerbefreiheit der Unternehmen. Diese Feststellungen begründet H. D. Meyer mit folgender Argumentationskette: Versicherung ist weder ein Produkt noch eine Dienstleistung, sondern die Beseitigung ungewisser finanzieller Risiken durch die gemeinschaftliche Bereitstellung von Geld (eine gemeinsame Geldreserve). Danach ist Versicherung eine Leistung der Versicherten (Geldbereitstellung), die von den Versicherungsdienstleistungsunternehmen nicht produziert, sondern nur organisiert wird. Dem entsprechend ist die Gesamtprämie kein Preis, sondern sie besteht aus einem Beitrag zur gemeinsamen Geldreserve und einem (versteckten) Dienstleistungsentgelt. Also ist Tarifgestaltung keine Preisgestaltung. Alle Länder dieser Erde verbuchen Versicherung in ihrem Bruttosozialprodukt als einen Einkommensumverteilungsvorgang, der nichts produziert. Das Bruttoprodukt von Versicherungsdienstleistungsunternehmen wird nur nach dem Dienstleistungsanteil der Prämie bewertet. Solange die Versicherungsprämien ungeteilt sind, können Versicherer nicht als Produktions- oder Dienstleistungsunternehmen eingestuft werden. Vielmehr sind ihre geschäftlichen Aktivitäten aleatorische (zufallsbedingte) Ausgleichsgeschäfte (wie Lotterien, mit „Gewinnen“, die durch den Zufall bestimmt werden, nicht aber durch die Effizienz des Wirtschaftens). Tarifgestaltung kann keine Wettbewerbsmaßnahme sein, die die Effektivität der Unternehmensdienstleistungen beeinflusst, aber – anders als bei Produktionsbetrieben – können Versicherungsunternehmen die Prämienüberschüsse (die sie als ihre „Gewinne“ ansehen) durch die Selektion von Gruppen nach ihren Gruppenergebnissen beeinflussen. Dadurch ist die Folge der Tariffreiheit der Zwang für die Versicherer, die Tarifierungspraktiken ihrer Konkurrenten zu übernehmen – zum Beispiel den Garagenbesitz als Tarifmerkmal zu verwenden: Wenn eine Versicherungsgesellschaft die Prämien für Garagenbesitzer einheitlich um 10 Prozent gegenüber den Prämien für Nichtgaragenbesitzer vermindert, würden andere Versicherer eine Abwanderung von Garagenbesitzer hinnehmen müssen und sie würden nur noch Nichtgaragenbesitzer im Bestand haben, die – nur als Gruppe – einen höheren Schadenaufwand erfordern, der nicht mehr durch die gemischten Gruppenprämien gedeckt wäre. Das Ergebnis wäre Zahlungsunfähigkeit. Also müssen alle Gesellschaften - wohl oder übel – gemeinsam das neue Selektionsmerkmal „Garage“ in ihre Tarife übernehmen. Da auf diese Weise alle Versicherer die Autofahrer nach den gleichen Kriterien klassifizieren, wird ein junger Mann, der ein guter, schadenfreier Fahrer ist, der nicht im öffentlichen Dienst beschäftigt ist, keine Garage besitzt und sich keinen Neuwagen leisten kann, von allen Versicherungsunternehmen in eine Gruppe eingestuft, die der Kombination dieser Merkmale entspricht. Dementsprechend erhält er hinsichtlich seiner Tarifeinstufung von allen Versicherern seines Landes gleiche Angebote. Die niedrigeren Prämien – zum Beispiel für einen Beamten aus einer ländlichen Gegend mit einem Neuwagen und einer Garage – sind für ihn wegen seiner Merkmale unerreichbar. Trotz seiner Schadenfreiheit, kann er nicht einmal die niedrigeren Prämien erreichen, die älteren Autofahrern berechnet werden, die schon mehrere Schäden hatten. Als isolierter Verbraucher ohne Marktmacht muss der Einzelne die Prämien akzeptieren, die die Versicherer ihm anbieten. Prämien werden also nicht im Interesse der Verbraucher, sondern im Interesse der Versicherungsunternehmen festgesetzt, die mit ihrem Ausgleichsgeschäft „Gewinne“ erzielen wollen und ihre „Gewinne“ durch die Selektion einzelner Versichertengruppen beeinflussen können. Als Ergebnis dieser Selektion (die viele fälschlicherweise als „Wettbewerb“ bezeichnen) führen die Selektionsmerkmale nicht zu mehr Wahlfreiheit für den Verbraucher. Sie beschneiden – im Gegenteil - zunehmend die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen und lassen den einzelnen Fahrzeughalter, wenn man die Selektion bis an die Grenzen fortführt, in einer winzigen (statistischen) Zelle, die dann seinen „Hochprämienmarkt“ darstellt (zum Beispiel für gute Autofahrer, die einer Gruppe mit hohem Schadenaufwand zugewiesen werden, wie es der Fall ist bei der Gruppe von jungen Fahrzeughaltern, die die höchste Zahl der guten Autofahrer aufweist, aber gleichzeitig auch die höchste Zahl schlechter Autofahrer und damit einen hohen Schadendurchschnitt). Auf diese Art und Weise beraubt die kartellartige Selektion den Verbraucher seiner – von der EU angestrebten – Freiheit, aus einer Vielfalt von Angeboten das seinen Bedürfnissen am besten entsprechende Angebot auswählen zu können (wie es die 3. EU-Richtlinien fordern). Die Tariffreiheit, die nach den Vorstellungen der EU eine größere Wahlfreiheit für die Verbraucher schaffen würde, hat den gegenteiligen Effekt erzielt. Das Ziel der EU, einen Binnenmarkt zu schaffen und mehr Auswahl an Angeboten für die Verbraucher herbei zu führen, ist gescheitert. Der BdV fordert als allein zulässige Tarifmerkmale für eine Prämiendifferenzierung das Fahrverhalten (nach Schäden und Verkehrsstrafen), die jährliche Kilometerleistung, ein vorher festgelegtes Fahrgebiet (das sich nicht ohne weiteres aus dem Wohnort des Fahrzeughalters ergibt, sondern vom Antragssteller bestimmt und jährlich vom Versicherten bestätigt oder abgeändert wird) und die Verkehrssicherheit des Fahrzeugtyps. Bei dieser Tarifierungsmethode ist das Ziel nicht, den Gesamtschadenaufwand einer gleichmäßig Gruppe auf die einzelnen Gruppenmitglieder zu verteilen, sondern die Unterschiede des individuellen Risikos und der individuellen Gefahr zu messen. Das entspricht der allgemeinen Versicherungstechnik, wonach das individuelle Risiko eines Versicherten nach typischen Risiko- und Gefahrenmerkmalen bestimmt wird, die bei allen Versicherten festgestellt werden können und den Umfang des versicherten Risikos und den Grad seiner Gefährdung beeinflussen. Eine gesetzliche Zwangsversicherung würde nicht dem Gleichbehandlungsgrundsatz entsprechen, wenn gleiche Fahrer gleicher Fahrzeuge, die im gleichen Fahrgebiet die gleiche Zahl an Kilometern fahren, extrem unterschiedliche Versicherungsbeiträge bezahlen, nur weil sie einer Gruppe zugeordnet werden, dessen höherer Gesamtschadenaufwand sich von dem geringeren Schadenaufwand einer anderen Gruppe unterscheidet. Nach Meinung von H. D. Meyer ist Tarifgestaltung eine Dienstleistung, die im Namen und Interesse der Versicherten zu erbringen ist, und zwar von den Versicherungs(dienstleistungs)unternehmen, denen vom Staat – zum Schutze der Verkehrsopfer - die Aufgabe übertragen worden ist, eine Gemeinschaft der Pflichtversicherten zu organisieren. Jeder einzelne Fahrzeughalter, der gesetzlich verpflichtet ist, sich zu versichern, hat ein Recht auf eine Prämie, die in seinem Interesse festgesetzt und deren Angemessenheit überprüft worden ist. Durch die Deregulierung und Einführung der Tariffreiheit wurden die Verbraucher dieses Rechts beraubt. Deshalb sind gesetzgeberische Aktivitäten in Bezug auf die Beitragsfestsetzung und Beitragsklassenbildung im Bereich der Pflichtversicherung notwendig, um Diskriminierungen zu beseitigen und zu verhindern. Und sie sind auch zulässig, weil solche gesetzgeberischen Aktivitäten nur Versicherungsvorgänge betreffen (die nicht Gegenstand von Wettbewerb sind), nicht aber die unternehmerischen Dienstleistungen. Tatsächlich gibt es in fast allen EU-Mitgliedsstaaten derartige Eingriffe. Nicht nur die riesigen Prämienspreizungen in den einzelnen Ländern, sondern auch die Abweichungen dieser Spreizungen zwischen den einzelnen Ländern sollte allen Verantwortlich zu denken geben, ob derartige Prämiendifferenzen nicht diskriminierend sind und ob solche Ungleichbehandlungen (Diskriminierungen) nach der Versicherungstechnik und den dabei verwendeten statistischen Methoden wirklich gerechtfertigt sind. Vorschläge für Aktivitäten der EU-KommissionDie Autoren der Untersuchung schlagen der EU-Kommission vor, neutrale Wissenschaftler mit weiteren Untersuchungen über die grundsätzlichen Fragen zu beauftragen, insbesondere zu den ökonomischen Vorgängen, die mit Versicherung verbunden sind. Das Ergebnis solcher Studien könnte der Vorschlag sein, eine Re-Regulierung des wettbewerbsfreien und nichts produzierenden Versicherungsbereichs (einschließlich der Beitragsfestsetzung im Bereich der Kfz-Pflichtversicherung) vorzunehmen und die vergangenen, laufenden und geplanten Maßnahmen gegen Mitgliedsstaaten zu überprüfen, die im Zusammenhang mit den Bedingungen und Tarifen der Kfz-Haftpflichtversicherung stehen. Die vorgeschlagenen Untersuchungen könnten auch für den Europäischen Gerichtshof (einschließlich des Generalanwalts) neue Erkenntnisse ergeben zu Fragen des Wettbewerbs und was eigentlich Dienstleistungen sind. |
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